Testen ist Arbeitgeberpflicht

Wolfgang Brinkschulte / MDR-Wirtschaftsexperte

Die Unternehmen in Deutschland müssen ihren Beschäftigten verpflichtend Corona-Tests anbieten, wenn sie nicht im Homeoffice arbeiten. Und das ist auch in ihrem ureigensten Interesse.

Es gibt viele Unternehmen, die sich danach sehnen, den Betrieb wieder aufzunehmen. Zu lange ringen sie schon um ihre wirtschaftliche Existenz. Ganze Branchen haben die Corona-Krise und die staatlichen Maßnahmen ins Abseits gestellt. Sie wären froh, wieder zu öffnen und Kunden zu begrüßen.

Eine Testpflicht würden sie gern einkalkulieren, wäre sie der Schlüssel zu neuen Umsätzen, zum Erhalt der Firma. Da geht es dem größten Teil der Wirtschaft besser. Das ist gut. Einschränkungen in der Produktion würden absehbar enorme Schäden verursachen.

Grundsatzdebatte fragwürdig

Auch deshalb ist die Grundsatzdiskussion um eine Corona-Testpflicht in Unternehmen unverständlich. Für viele Unternehmen spielen die Ausgaben für den Kauf der Testkits keine große Rolle. Die Debatte darum bekommt eine Höhe, die weder sachgerecht noch angemessen ist. Bei der Testpflicht geht es nicht um ein staatliches Misstrauensvotum gegenüber privaten Unternehmen, sondern um den Versuch, das Infektionsgeschehen am Arbeitsplatz besser zu identifizieren.

Dass Vorbeugung Not tut, wissen wir seit Ausbruch der Krise. Hygienekonzepte sind wichtig und brauchen Ergänzung. Der aktuelle Appell der Aerosolforscher verstärkt ein weiteres Mal vorhandene Erkenntnisse. Fast ausnahmslos finden Ansteckungen in Innenräumen statt. In Wohnungen, Klassenräumen und Betreuungseinrichtungen. Und eben auch in Büros, also am Arbeitsplatz.

Unternehmen auch vorbildlich

Da können Tests wenigstens helfen, Infizierte zu erkennen. Und das machen ja rund 60 Prozent der Unternehmen bereits. Viele übrigens schon, als von einer Testpflicht noch keine gar keine Rede war. Manche fahren schon seit Monaten mit einem Testmobil von Standort zu Standort. Mit großer Resonanz und ohne Tamtam. Auf eigene Kosten, auch um Ausfallkosten zu reduzieren. Sie waren Vorreiter.

Auch wenn der Selbst- oder Schnelltest nur die bekannte Momentaufnahme ist, bringt er doch mehr Licht in ein immer noch sehr schattiges Gelände. Auch nach mehr als einem Jahr Pandemie wissen wir fast nichts konkretes zu den Infektionsquellen. Deutschland ist Bürokratieweltmeister, doch in Sachen Dokumentation Kreisklasse. Das hat nicht nur mit mangelhafter Digitalisierung zu tun.

Nachholbedarf bei Erkennung

Das RKI wiederholt in seinen Lageberichten seit Monaten den immer gleichen Satz: „Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt.“ Und erklärt sehr allgemein insbesondere private Haushalte, zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld zu Orten von COVID-19-bedingten Ausbrüchen. In Anbetracht der Entwicklung ist auch hier dringender Handlungsbedarf und eine Testdokumentation wäre hilfreich.

Sachsen arbeitet seit vier Wochen mit einer Pflicht zu Selbsttests am Arbeitsplatz. Auch mit guten Erfahrungen. Soweit die Tests verfügbar sind. Da geht es manchem Unternehmen wie den kaufwilligen Konsumenten. Das Angebot ist volatil, es schwankt. Auch weil wir, wie bei den Masken, fast ausschließlich von Importen aus China abhängig sind. Eine Ausweitung der Produktion, insbesondere hierzulande, hinkt. Da muss die Bundesregierung nachhelfen, will sie die Testpflicht im Arbeitsalltag umfassend ermöglichen.

Tests sind Arbeitsschutz

Tests können Unternehmen am Laufen halten, den Arbeitsschutz erhöhen und Risiken begrenzen. Insofern ist eine Testpflicht auch im ureigensten Interesse der Unternehmen. Sicher entstehen Kosten. Die Rechnung der Bundesregierung, nach der 130 Euro pro Beschäftigtem für Masken und Tests bis Ende Juni anfallen, sieht auf den ersten Blick günstig aus. Doch Kosten für einige wenige Stunden Mindestlohn im Monat kann im Ernstfall höhere Kosten sparen. Personalausfall kann auch Produktionsreduzierung bedeuten. Und der Aufwand kann steuerlich geltend gemacht werden.

Es macht wenig Sinn, die Debatte um eine Testpflicht in Unternehmen so zu führen wie die um einen gesetzlichen Anspruch auf Homeoffice. In der Frage haben sich die Wirtschaftsverbände bisher durchgesetzt. Doch Infektionsschutz braucht ganz offenbar mehr Regeln mit Durchschlagskraft.

Der Präsident des Verbandes der Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA), Karl Haeusgen, hat Recht, wenn er zur Entscheidung der Bundesregierung heute sagt, dass die bisherige Selbstverpflichtung in vielen Unternehmen künftig an der Praxis nicht viel ändere. Die Kosten für die Tests betrachte er als Teil des gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen in der Corona-Krise. So kann es gehen.

zuerst erschienen bei mdr.de am 13. April 2021

Home Office – Deutschland braucht eine neue Arbeits- und Unternehmenskultur

von Wolfgang Brinkschulte

Das Home-Office-Gesetz von Bundesarbeitsminister Heil (SPD) ist vorerst gescheitert. Das sollte einen Rechtsanspruch für Arbeitnehmer gewährleisten. Doch noch wichtiger ist eine veränderte Unternehmenskultur.

Es ist nicht sehr lange her, da war Deutschland weit abgehängt. Noch Anfang dieses Jahres galten viele Unternehmen als Home-Office-Muffel. Nach einer Analyse des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung arbeiteten in den letzten Jahren nur etwa zehn Prozent der Arbeitnehmer mobil, zuhause oder unterwegs. In den Niederlanden, Schweden oder Dänemark waren es über 30 Prozent.

Das hat sich zwangsweise geändert. In Pandemiezeiten schnellte der Anteil in manchen Unternehmen auf über 80 Prozent hoch. Dort, wo es geht, arbeitet die Mehrheit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am heimischen Schreibtisch. Nicht immer freiwillig, sondern unter dem Druck der Krise. Ausnahmezustand.

Rechtsanspruch für alle, zwei Tage im Monat?

Bundesarbeitsminister Heil von der SPD mag das für den richtigen Zeitpunkt gehalten haben, ein Home-Office-Gesetz vorzulegen. Ein Rechtsanspruch für alle, zwei Tage im Monat arbeiten fern der Firma. Nun ist Heil damit vorerst gescheitert. Das war vorhersehbar, und dennoch hat er recht. In der Sache.

Wie ist die Lage? Millionen von Mitarbeitern werden derzeit nach Hause geschickt, manche Büros wirken wie leergefegt. Die, die ihr Tagwerk außerhalb verrichten können, meiden Kontakte. An das, was für den privaten Bereich gilt, halten sich auch Unternehmen, auf ihre Art. Doch die Krise ist kein Maßstab.

Mobiles Arbeiten in vielen Unternehmen nun Realität

Arbeiten im Home-Office ist schon lange keine Errungenschaft von fortschrittlichen Sozialpolitikern. Mobiles Arbeiten ist Element einer Unternehmenskultur, die weder neu noch revolutionär ist. Sie ist im Gegenteil für immer mehr Unternehmen ein Markterfordernis, das doch in vielen Unternehmen erst jetzt in der Krise angekommen ist. Und prima funktioniert.

Familie und Arbeit, Persönliches und Beruf unter einen Nenner bringen, das ist das Ziel eines Home-Office-Gesetzes, und in vielen Unternehmen und Institutionen längst Realität. Die New-Work-Bewegung war Inspirator, und die Marktgesetze haben ihr Übriges getan. Wer als Unternehmer gute Fachkräfte wollte, für den war mobiles Arbeiten kaum der Rede wert. Eine Selbstverständlichkeit.

Nicht für alle Berufe möglich

Klar, dass das weder für den Schreiner, den Bäcker oder den Klempner funktioniert. Doch auch nicht jeder arbeitet am Wochenende oder in der Nacht, wie die systemrelevanten Intensivpfleger, die OP-Schwestern oder die Notärzte.

Ob die Politik dem gewachsenen Bedürfnis nach Home Office, das in vielen Unternehmen seit Langem zur Unternehmenskultur gehört, gerecht werden kann, bleibt jenseits des parteipolitischen Streits zweifelhaft.

Betriebsvereinbarungen zu Home Office fehlen oft (noch)

An den Niederlanden könnte sich die Politik hierzulande ein Beispiel nehmen. Ein Gesetz ermöglicht dort seit Jahren Home Office. Ohne zwingenden Anspruch für den Arbeitnehmer, aber mit intensiver Beratung und Begründungspflicht bei Ablehnung. Nun sind bei uns weiter die Betriebs- und Personalräte gefordert. Denn Hauptverhinderer der Arbeit über Distanz sind fehlende Betriebsvereinbarungen, wie das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in einer kürzlich vorgelegten Untersuchung dargelegt hat. Bei knapp 58 Prozent der befragten Unternehmen fehle diese. Viel Handlungsbedarf.

Home Office ist eine Frage zur Gestaltung der Arbeitswelt von heute und morgen. Und eine Frage, wie wir leben wollen. Da kommt die Themenwoche der ARD gerade recht.

Zuerst erschienen bei mdr.de am 16. November 2020

FROHES SCHAFFEN !

von Wolfgang Brinkschulte

Frohes Schaffen ist Transformation. Frohes Schaffen ist Alltag. Frohes Schaffen sagen Menschen, wenn sie den Fahrstuhl verlassen. Frohes Schaffen hört man am Ende von Konferenzen, als Morgengruß auf den Fluren der Büros und als Verabschiedung in Onlinemeetings. Und doch ist Frohes Schaffen mehr als ein Sprichwort. Mein Architektenfreund hat das gut zusammengefasst. Er stellt sich eine Welt vor, in der jeder Mensch morgens inspiriert zur Arbeit geht und abends das gute Gefühl hat, etwas Wertvolles geleistet zu haben. Er hat Recht. Frohes Schaffen ist Programm und Philosophie der Arbeit.

Doch eine solche Arbeitskultur ist kein Selbstläufer, sondern Arbeit. Es braucht viel Input und meistens strukturelle Veränderungen. Eine Verbesserung von Unternehmenskultur braucht Zeit, Ideen, Vorbilder und Führungswillen. Dann kommt man dem Ziel schon viel näher. Frohes Schaffen!

Recht auf Homeoffice: Gesetze helfen nur bedingt

von Wolfgang Brinkschulte

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will bis Herbst einen Gesetzentwurf vorlegen, der ein grundsätzliches Recht auf Homeoffice vorsieht.

Noch wissen wir nicht genau, was Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in seinem angekündigten Gesetz zum Homeoffice alles regeln will. Ein Recht für Arbeitnehmer auf Heimarbeit soll es geben. „Jeder, der möchte und bei dem es der Arbeitsplatz zulässt, soll im Home Office arbeiten können, auch wenn die Corona-Pandemie wieder vorbei ist.“ Mit diesen Worten hat Heil seinen Plan angekündigt. Im Herbst dann soll er soweit sein.

Arbeitswelt ändert sich ständig

Die Initiative ist gut, richtig und kommt zur rechten Zeit. Sie entspricht der sich seit Jahren rapide verändernden Arbeitswelt. Und sie entspricht auch den veränderten Erwartungen von Arbeitnehmern an ihre Arbeit. Wer heute junge Talente sucht und in punkto flexibler Arbeit nichts zu bieten hat, geht meist leer aus. Homeoffice gehört hier zum Standardrepertoire – und bei immer mehr Unternehmen, nicht nur aus der IT und Startup-Szene. All das funktioniert bestens und ganz ohne Gesetz.

Homeoffice fristet Nischendasein

Weil sich die Unternehmenskultur geändert hat und Geschäftsleitungen erkannt haben, dass mobiles Arbeiten mittlerweile bei vielen ein Grundbedürfnis geworden ist. Und sich auszahlt. Für Mitarbeiter wirkt es motivierend und wertschätzend, die Arbeit einzuteilen auch mal ein paar Stunden mit den Kindern tagsüber Zuhause zu verbringen. Und auch für die Unternehmen ist es in der Regel mehr Vor- als Nachteil. Nach allen Erkenntnissen sind die Heimwerker mindestens genauso effizient wie im Firmenbüro.

Dennoch fristet Homeoffice statistisch gesehen noch immer ein Nischendasein. Nur rund fünf Prozent erledigen ihre Dienstgeschäfte von Zuhause. Noch im Sommer 2018 arbeiteten knapp die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland gar nicht von Zuhause, rund ein Viertel durften nicht einmal dort arbeiten.

„Bloß nicht alles regeln“

Da scheint es sinnvoll, der Entwicklung einen kräftigen Schub zu geben. Unternehmen könnten durch Heils Initiative motiviert werden, mit den Personalvertretungen Betriebs- oder Dienstvereinbarungen zu schließen. Das könnte flexibles Arbeiten befördern und die jeweiligen Anforderungen der Unternehmen berücksichtigen. Heils Gesetz könnte den Rahmen dafür schaffen. Aber auch nicht mehr. Bloß nicht alles regeln. Das widerspräche einer modernen Unternehmenskultur und auch dem Umgang von Heils eigenem Ministerium. Das teilte gerade mit, dass nach der hauseigenen Dienstvereinbarung „grundsätzlich … jedermann im Rahmen der technischen Möglichkeiten im Homeoffice arbeiten“ könne.

zuerst erschienen bei mdr.de am 27. April 2020

Zukunft Homeoffice? – eine Bestandsaufnahme

von Wolfgang Brinkschulte

Durch Corona wird das Homeoffice plötzlich zur Alternative. Damit die erfolgreich funktioniert, benötigt es allerdings Rahmenbedingungen. Denn das „Neue Arbeiten“ ist für Angestellte und Chefs gewöhnungsbedürftig.
Da sitzt man also in den eigenen vier Wänden, zwangsversetzt, und erledigt seine Dienstgeschäfte zwischen persönlichen Papierstapeln, den Verlockungen des so oft zitierten Kühlschranks und womöglich dem Genörgel der Kinder. Keine leichte Situation, keine, die man sich gewünscht hat. In diesen Wochen erst recht. Doch eben ganz anders, als man in Vor-Corona-Zeiten den Chef nach einem Tag Homeoffice gefragt hatte.Auch da muss der Hausarbeitstag nicht unbedingt besser gewesen sein. Denn Homeoffice geht nicht von selbst, Homeoffice will geübt sein. Mobiles Arbeiten ist normalerweise eine Führungsaufgabe, eine strategische Entscheidung von Unternehmensleitungen und immer abhängig von der jeweiligen Unternehmenskultur.

Zukunft der Arbeit

Plötzlich sind viele Unternehmen und Institutionen, auch öffentliche Verwaltungen, mit diesen neuen Herausforderungen konfrontiert. Disruptiver geht es kaum. Wie also die Mitarbeiter am heimischen Küchentisch steuern, wie mit ihnen kommunizieren, wie motivieren, Feedback einholen und Projekte organisieren? Derzeit geht viel in Unternehmen und Behörden. Deutschland ist im Krisenmodus. Alle leisten ihren Beitrag, so gut sie können.Vorarbeit hat nicht nur die „New Work“-Bewegung geleistet, sondern auch die Start Ups und Tech-Unternehmen und die vielen Konferenzen zur Zukunft der Arbeit. Sie haben in den vergangenen Jahren Entwicklungen angestoßen und erfolgreich praktiziert, von denen die Mehrheit der Unternehmen heute profitieren kann. Ebenso haben Wissenschaftler, allen voran das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, seit Jahren wertvolle Beiträge geliefert.Auch Mittelständler bei uns haben mittlerweile mobiles Arbeiten und agile Methoden auf dem Schirm und profitieren davon. Allerdings muss man das auch wollen, Chefs müssen sich dem stellen, Geschäftsleitungen entscheiden.Doch noch im Sommer 2018 arbeiteten nach einer Erhebung von IDG research, zusammengetragen von Statista, nur 16,6 Prozent der Arbeitnehmer auch mal im Homeoffice, ausschließlich nur 3,8 Prozent. Knapp die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland arbeiteten gar nicht von zu Hause, 23,8 Prozent durften noch nie dort arbeiten.Um die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland einzudämmen, haben aber nun viele Unternehmen ihre Angestellten inzwischen ins Homeoffice geschickt. Vor allem Eltern nutzen diese Möglichkeit, sofern sie gegeben wird, um ihre Kinder betreuen zu können, seitdem Kitas und Schulen geschlossen wurden. Wie viele Arbeitnehmer derzeit tatsächlich zu Hause arbeiten, dazu ist die Datenlage noch unübersichtlich.

Mehrheit für Home Office

Laut einer aktuellen Umfrage des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) unter Angestellten wären 75,4 Prozent grundsätzlich bereit, während der Corona-Krise zu Hause zu arbeiten. 24,6 Prozent können sich das nicht vorstellen. 66,1 Prozent der Befragten erwarten von ihrem Arbeitgeber eine adäquate Lösung in dieser Situation. 45,3 Prozent der befragten Angestellten denken, dass ihr Arbeitgeber technisch dazu in der Lage sei, ihnen die Arbeit von zu Hause zu ermöglichen. 45,7 Prozent der Befragten sehen ihren Arbeitgeber noch nicht dazu bereit. Für die Umfrage wurden 1.001 Angestellte kleiner, mittlerer und großer Unternehmen in Deutschland vom 5. bis zum 8. März repräsentativ befragt.
Auch wenn die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) am vergangenen Donnerstag in der Bundespressekonferenz erneut darauf hinwies, dass 90 Prozent ihrer Ministeriumsmitarbeiterinnen derzeit im Homeoffice seien, ist das sicher auch in Corona-Zeiten eine Ausnahme. Doch Giffey treibt seit Längerem digitale Arbeitsprozesse voran.Im Juni 2019 richtete sie dafür ein Innovationsbüro „Digitales Leben“ ein. Das Familienministerium und seine Leistungen und Unterstützungsangebote sollen dadurch digitaler werden. Damit dürfte sie in der bundesdeutschen Behördenlandschaft noch immer zu den Vorreitern zu gehören. Neben dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das per se zuständig ist.

Netzwerk von Staat und Gesellschaft

Jenes Ministerium hat schon 2015, noch unter der damaligen Ministerin Andrea Nahles (SPD), mit dem „Dialogprozess Arbeiten 4.0“ einen Rahmen für einen teils öffentlichen, teils fachlichen Dialog über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft initiiert, auch zu mobilem Arbeiten. Herausgekommen ist unter anderem die „Initiative neue Qualität der Arbeit“ (INQA).Unter diesem Dach sollen Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft neue Ansätze einer modernen Arbeits- und Personalpolitik diskutieren. Gemeinsam wollen sie konkrete und praxisorientierte Lösungen entwickeln, die Unternehmen und Institutionen bei der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen unterstützen.

Homeoffice in Mitteldeutschlands Ministerien

Mobiles Arbeiten von zu Hause wird derzeit auch in der öffentlichen Verwaltung in Mitteldeutschland praktiziert. In der Thüringer Staatskanzlei arbeiten beispielsweise von rund 400 Mitarbeitern momentan 125 im Homeoffice. Davon 87 die ganze Woche außerhalb des Büros, 38 arbeiten in einem Wechselmodell.Genaue Daten haben aktuell die sächsischen Ministerien zusammengetragen. In der sächsischen Staatskanzlei arbeiten 152 Bedienstete, circa 64 Prozent aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, von zu Hause. 84 von ihnen, und damit ca. 35 Prozent, haben auch im Homeoffice vollen Datenzugriff.
Von den rund 350 Bediensteten im Staatsministerium der Finanzen (SMF) sind derzeit abwechselnd rund zwei Drittel von zu Hause aus tätig. Sie haben dabei weitgehenden Zugriff auf die dafür erforderlichen Daten. Von den 390 Beschäftigten im sächsischen Innenministerium arbeiten derzeit 236 (ca. 60 Prozent) im Homeoffice. 74 von ihnen haben einen vollen Zugriff auf die dienstlichen Daten.Mit 82 Prozent arbeiten die meisten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen derzeit im sächsischen Wirtschaftsministerium von zu Hause aus. 345 Bedienstete waren das in der vergangenen Woche. Rund 60 Prozent von ihnen haben auch im Homeoffice vollen Zugriff auf ihre Daten im Ministerium.Auffällig viele Ministeriumsangehörige im sächsischen Staatsministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft haben die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten. 367, also 94,6, Prozent könnten im Homeoffice arbeiten. Wie viele tatsächlich zuhause arbeiten, lässt das Ministerium offen. Nur für 21 Bedienstete wurde die Präsenz am Arbeitsplatz angeordnet. Knapp die Hälfte habe auch im Homeoffice vollen Zugriff auf dienstliche Daten, hieß es.Die Möglichkeit, in der Dienststelle in Absprache mit dem Vorgesetzten tätig zu sein, bestehe davon unabhängig. Daher seien auch regelmäßig mehr als 21 Mitarbeiter in der Dienststelle anwesend.

Unternehmen ohne Büro

Wo in Deutschland erst in der Krise Unternehmen und Institutionen kleine Schritte ins Neuland wagen, haben anderswo Firmen mobiles Arbeiten gleich zum Geschäftsmodell erklärt. Etwa das hierzulande weitgehend unbekannte US-Großunternehmen eXp Realty, das an der elektronischen Börse Nasdaq in den USA gelistet ist. Es hat sich zum Vorreiter der Maklerbranche entwickelt.eXp Realty ist ein Immobilienmakler, der nach einem virtuellen Geschäftsmodell arbeitet. Es gibt keine Einzelhandelsbüros, in dem sich die Makler befinden, sondern sie arbeiten von zu Hause aus oder melden sich unterwegs an. Nach der sonst in der Branche schicken Firmenzentrale in bester Lage sucht man hier vergebens. Ausgerechnet ein Immobilienhändler verzichtet auf ein eigenes Bürogebäude. Dafür leistet sich die Firma eine aufwendige Basis im Internet.
Die Firmenzentrale liegt auf einer Insel inmitten eines Sees. Glitzernde Bürotürme, ein weitläufiger Campus, Fußball am Strand. Ein scheinbar luxuriöses Arbeitsumfeld, allerdings nur virtuell im Netz. Wer hier Mitglied im Team von rund 20.000 Mitarbeitern sein will, kreiert einen digitalen Avatar, setzt am eigenen Laptop ein Headset auf und setzt sich an seinen virtuellen Schreibtisch in der virtuellen Firmenzentrale. Von dort kommuniziert man mit den digitalen Alter Egos der weltweiten Kollegen, ohne dass sich die realen Menschen hinter den Avataren jemals persönlich begegnen müssen. Hier ist die Zukunft der Arbeitswelt nur einen Mausklick entfernt.Doch die Arbeitswelt von morgen gibt es auch schon heute bei uns. In Leipzig hat sich seit vielen Jahren ein Unternehmen auf moderne Arbeitswelten spezialisiert. Auch hier gilt: mobiles Arbeiten statt Büro, flexible Arbeitszeiten statt Stechuhr, Team statt Hierarchie. Bei AVILOX arbeiten seit Gründung rund 25 Mitarbeiter auch virtuell, bundesweit per Videochat, Projekttools und Telefon. Mit Abständen, aber regelmäßig, trifft man sich in der Leipziger Zentrale. Die liegt in einem sogenannten Coworking Space und ist mehr Treffpunkt als Büro.Dafür kommen alle Kollegen einmal im Monat zu einem Team Camp zusammen. Das sei wichtig für die gemeinsame Arbeit, sagt die Geschäftsführerin Regina Köhler. Sonst ist sie mit ihren Kollegen viel auf Workshops und für Vorträge unterwegs und berät Unternehmen zu allen Fragen mobilen Arbeitens.

Regeln für einen Kulturwandel

Sowohl in ihrer eigenen Firma als auch bei ihren Kunden seien die Fragen der Organisation und der Art des Zusammenarbeitens besonders wichtig. So mache man sich gemeinsam Gedanken über Formen der Organisationsentwicklung. Flexibles Arbeiten würde nicht in eine Fachabteilung wegdelegiert, sondern das müsse interdisziplinär zwischen den Abteilungen in Unternehmen angegangen werden.Diese Art der Erfahrung deckt sich denn auch mit den Einschätzungen und Studien des wichtigsten deutschen Forschungsinstitutes auf diesem Gebiet, dem Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Das entwickelt gemeinsam mit Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen der öffentlichen Hand Strategien, Geschäftsmodelle und Lösungen für die digitale Transformation.
Dazu gehören besonders ganzheitliche Konzepte für die Arbeits- und Organisationsgestaltung sowie für Unternehmens- und Führungskulturen. Josephine Hofmann, die Teamleiterin für Zusammenarbeit und Führung, forscht seit vielen Jahren an Führungskonzepten und flexiblen Arbeitsformen und hat Unternehmen auf dem Weg in die mobile Arbeit begleitet.In diesen Tagen hat sie Tipps fürs Homeoffice in Corona-Zeiten zusammengestellt: Handlungsanleitungen, die in immer mehr Unternehmen in Deutschland die Unternehmenskultur prägen, und die sowohl in Vor- wie auch Nach-Corona-Zeiten Bedeutung haben.Entscheidender Faktor beim Homeoffice sei Kommunikation, sagt Hofmann. Verantwortliche Führungskräfte sollten regelmäßig unter Nutzung aller verfügbaren Telemedien, Telkos, E-Mails, Chats oder Collaboration-Software, Kontakt zu Kollegen und Mitarbeitern halten. Sie sollten auch zu unkonventionellen Nutzungsformen ermutigen. Was bisher unmöglich schien, gehe nun manchmal doch. Das sei auch eine Lernchance.Dazu gehöre es, nicht zu stark in den schriftlichen Kommunikationsmodus zu verfallen. So praktisch und planbar geschriebene Mitteilungen oder Informationen auch seien, gerade Führungskräfte sollten unbedingt direkte, auch informelle Gespräche suchen. Das direkte Gespräch via Telefon oder Videokonferenz sei wichtiger, kommunikativer Bestandteil des Arbeitsalltags, auch als Zeichen von Wertschätzung und persönlicher Fürsorge.

Herausforderungen für Unternehmensführungen

Sich als Geschäftsleitung regelmäßig „aus dem Orbit“ in Form von unternehmensweiten persönlichen Ansprachen zu melden, könnte nicht hoch genug geschätzt werden, besonders in Ausnahmesituationen. Geschäftsleitungen sollten gerade Führungskräfte darin bestärken, das notwendige Vertrauen in den Leistungswillen und die Selbstmanagementfähigkeiten aufzubringen, aber auch mit der nötigen Konzilianz zu reagieren, wenn nicht alles gleich gut erledigt werde. Es sei eben eine Extremsituation, in der gerade sie viel lernen könnten.Da sind Unternehmen gut dran, die sich schon seit Jahren auf den Weg zum „New Work“ begeben haben. Wo sich Vertrauen den Mitarbeitern gegenüber auch in den Organisationsstrukturen widerspiegelt: mehr Netzwerk, weniger Hierarchie. Wo klar ist, dass Mitarbeiter im Homeoffice ihre Aufgaben selbstständig und erfolgreich erledigen.Die Corona-Krise hat gezeigt, dass sich unsere Arbeitsweise radikal verändert hat, von einem Tag auf den anderen. Heute muss sie mehr mobil sein, multilokal, morgen ist sie wohl mehr und mehr auch virtuell. Sich technisch und kulturell darauf einzustellen, dürfte für Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine der Lehren und Herausforderungen sein, um nicht der Entwicklung hinterher zu hinken, sondern mit dem Wandel mitzuhalten.

zuerst erschienen bei mdr.de am 15. April 2020